Sieben Visionen für Deutschland

Medizin, Datensicherheit, Künstliche Intelligenz, Mobilität, Energie, Umwelt und Klima – das sind nur einige der Zukunftsthemen, bei denen aus exzellenter Forschung neue Wertschöpfung entstehen kann. Wie das gelingt? Indem kluge Köpfe, die Innovationsideen und spezielles Wissen in neue Themenfelder einbringen, vielfältig vernetzt in ihrer Region zusammenarbeiten, so wie in den Zukunftsclustern.

Wer im globalen Innovationswettbewerb konkurrenzfähig bleiben will, muss Forschungsergebnisse früher, schneller, nachhaltiger umsetzen – durch Pioniergeist und Vernetzung in einer leistungsfähigen Region. Diese Zusammenschlüsse aus Forschung, Wirtschaft und Gesellschaft, die zu neuer Wertschöpfung Invented and Made in Germany führen können, fördert das Bundesministerium für Bildung und Forschung in dem 2019 ausgerufenen Innovationswettbewerb Clusters4Future. In der ersten Wettbewerbsrunde setzten sich 2021 sieben Zukunftscluster nach einer halbjährigen Konzeptionsphase mit sehr unterschiedlichen Themen und Lösungsansätzen durch – alle mit einer Vision für Deutschland.

Umdenken in der urbanen Mobilität

Bereits heute lebt mehr als drei Viertel der Deutschen in Städten oder Ballungsgebieten. Wir sind eine urbanisierte Gesellschaft, die auch die Schattenseiten von Luftverschmutzung in den Stadtzentren, drohendem Verkehrskollaps und einem bedenklichen Stadt-Land-Gefälle kennt. Mobilität ist aber auch ein Schlüssel für Wohlstand, Lebensqualität und Nachhaltigkeit. Zugleich werden die Herausforderungen unseres Mobilitätsverhaltens immer deutlicher. Wie können technische und soziale Innovationen dabei helfen, dieses Dilemma zu lösen? Wie kann einer der stärksten Wirtschaftssektoren Deutschlands von der Mobilitätswende profitieren?

Mit mehr als fünf Millionen Einwohnern verzeichnet der Großraum München das stärkste Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum in Deutschland. Zudem wird die Innovationsregion als eine der globalen Zentren der Automobilbranche durch neue Akteure wie Tesla herausgefordert. Vor diesem Hintergrund forschen transdisziplinär fünf wissenschaftliche Einrichtungen und etwa 50 Partnerinnen und Partner aus Wirtschaft und Gesellschaft gemeinsam in Leuchtturmprojekten wie Autoreduzierte Quartiere für eine lebenswerte Stadt (AQT) daran, den Individualverkehr zu reduzieren. Der Zukunftscluster MCube entwickelt technisch nachhaltige Mobilitätsangebote, wie Mobilitätshubs oder Logistikknotenpunkte, die eine möglichst nahtlose Verknüpfung von Verkehrsmitteln zum Ziel haben. So entstehen verlässliche Algorithmen und Software für Verkehrssysteme und automatisiertes Fahren in komplexen, urbanen Umgebungen.

Mit München als riesigem Reallabor und mit Modellcharakter für andere Großstädte dieser Welt denkt MCube einerseits die zügige und gute Erreichbarkeit von Pendelzielen, anderseits aber auch die Nutzungsqualität von Stadträumen neu. Die Technische Universität München (TUM) bündelt dafür Wissenschaft, führende Unternehmen, KMU und Start-ups sowie Stadt- und Gemeindeverwaltungen, öffentliche Verbände und die Zivilgesellschaft vor Ort. Letztere wird explizit zu Verkehrsgewohnheiten und Mobilitätsbedürfnissen einbezogen, denn hier sollen soziale Aspekte der Mobilitätswende im Einklang mit wissenschaftlich-technischen Kompetenzen und privatwirtschaftlichen Interessen stehen.

Nachhaltige Nutzung der Meere

Von Stadt und Land zu Wasser: Während wir in den Metropolen unsere Klimaziele verhandeln, sichert ein sensibles Ökosystem schon immer unsere Lebensgrundlage. Ozeane bieten nicht nur unzähligen Arten einen Lebensraum, die uns als Nahrungsquelle dienen, sondern haben einen wichtigen Einfluss auf unser Klima. Sie allein erzeugen mehr als die Hälfte des weltweiten Sauerstoffs. Zudem beherbergen sie wichtige Rohstoffe und bieten nicht zuletzt mit der Windkraft eine regenerative Energiequelle, die noch immenses Potential im Offshore-Bereich hat.

Die nachhaltige Nutzung der Meere hängt eng von der Entwicklung geeigneter Unterwassertechnologien ab, um zum Beispiel durch autonome, unbemannte Fahrzeuge die Unterwasserwelt besser zu erschließen, Aquakulturkäfige und Offshore-Anlagen aufzubauen und nachhaltig zu betreiben. Diesem Ziel widmet sich der Zukunftscluster Ocean Technology Campus – OTC Rostock unter anderem mit OTC-BASE, einem der Flagship-Projekte der ersten Umsetzungsphase. Es soll die Erprobungsinfrastruktur für die Entwicklung solcher Systeme liefern.

An einem der traditionsreichsten maritimen Standorte im Nordosten Deutschlands vereint OTC Rostock unter Federführung der Universität Rostock die Meeresforschung, Ingenieurswissenschaft, Informatik und Innovationsmethodik aus universitärer und angewandter Forschung mit Ausbildung und Unternehmertum. Die initiale Zusammensetzung des Clusters hat eine hohe Dichte an KMU und Start-ups. Im Einklang mit der gerade begonnenen UN-Dekade der Meeresforschung für nachhaltige Entwicklung (Ozeandekade), will der Zukunftscluster am Beispiel der Ostsee verstehen lernen, wie Küsten- und Randmeere besser geschützt werden können, wenn menschliche Nutzung und Klimawandel weiter zunehmen.

Die Infografik zeigt, dass es in der ersten Wettbewerbsrunde 16 Finalisten, 36 geförderte Konzeptionsphasenprojekte, 7 durchgesetzte Zukunftscluster sowie 262 Projekte, die in der ersten Umsetzungsphase gefördert werden, gab. In der Zweiten Wettbewerbsrunde wurden mit 38 Konzeptionsphasenprojekten 15 Finalisten gefördert. Mitte Juli 2022 erfolgt die Auswahl der neuen Zukunftscluster, die voraussichtlich 2023 in ihre erste von drei möglichen Umsetzungsphasen starten werden.

Erste Wettbewerbsrunde

Offenheit der Themen, Technologie und Akteure

Ziel der Zukunftscluster-Initiative ist es, vielversprechende Ergebnisse aus der Spitzenforschung früh auf ihre Marktchancen zu prüfen und mit kompetenten Partnerinnen und Partnern in der Region schneller zur Marktreife weiterzuentwickeln. Für dieses ehrgeizige Ziel sollen bislang unterrepräsentierte Akteurinnen und Akteure, wie Start-ups oder gesellschaftliche Gruppierungen, aktiv einbezogen werden. Die Zukunftscluster-Initiative ist in jeder Hinsicht offen angelegt. Es gibt keine festen Themen und es sollen bewusst innovative Ansätze an den Schnittstellen von Fachdisziplinen und Branchen gefördert werden.

Ein Beispiel für eine besonders junge Disziplin, die fachübergreifend zur Anwendung kommt, ist die Quantensensorik. Diese neue Art von Sensoren mit bisher unerreichter Empfindlichkeit und räumlicher Auflösung können zum Beispiel in der Medizintechnik, der autonomen Navigation und in den erneuerbaren Energien eingesetzt werden. Der Zukunftscluster QSens mit der koordinierenden Universität Stuttgart nutzt die Forschung zur Quantenphysik und hat die Vision eines transdisziplinären, weltweit führenden Clusters in Baden-Württemberg für die industrielle Fertigung von Quantensensoren.

Zwei der Zukunftscluster sollen die kommenden globalen Top-Regionen für Gesundheitsforschung und Therapie von Volkskrankheiten wie Krebs werden. PROXIDRUGS, koordiniert von der Goethe-Universität Frankfurt am Main, entwickelt eine neue Wirkstoffklasse, die bereits durch die enge räumliche Nähe (Proximität) zu den krankheitsrelevanten Proteinen wirkt. Auf diese Weise könnten bislang als nicht angreifbar geltende, krankmachende Proteine unschädlich gemacht werden.

PROXIDRUGS schlägt eine Brücke zwischen wissenschaftlicher und industrieller Grundlagenforschung in der Rhein-Main-Region, deren Leistungsfähigkeit bereits während der COVID-Pandemie international Aufsehen erregte. Der zweite medizinische Zukunftscluster SaxoCell in der Region um Dresden, Leipzig und Chemnitz schafft ein sächsisches Zentrum für Zell- und Gentherapie. Mit sogenannten lebenden Arzneien wird der von der Technischen Universität Dresden koordinierte Zukunftscluster den Einsatz von innovativen Zell- und Gen-Editing-Techniken um neue Produktionsmethoden und Anwendungsgebiete erweitern und speziell für personalisierte Medizinansätze ausbauen. Im Ergebnis kann das die Kosten für das Gesundheitssystem senken und eine breitere medizinische Anwendung realisieren.

Im Dreiländereck in Aachen formieren sich gleich zwei Zukunftscluster mit unterschiedlichen Schwerpunkten. NeuroSys erforscht lernfähige und energieeffiziente neuromorphe Chips für die Künstliche Intelligenz. Das Ziel ist wie bei biologischen neuronalen Netzen, eine intelligente, lokale Datenverarbeitung als Voraussetzung für zukünftige KI-Anwendungen zu schaffen. Die künstlich geschaffenen neuronalen Netze können zum Beispiel für die Bild- oder Spracherkennung genutzt und diese dadurch deutlich schneller werden. Langfristig soll damit die technologische Souveränität Europas in ethisch sensiblen Bereich der Künstlichen Intelligenz gewahrt bleiben. Koordiniert wird der Zukunftscluster von der RWTH Aachen.

Ebenfalls unter Koordination der RWTH Aachen befindet sich der Zukunftscluster Wasserstoff. Der Energieträger bietet die Möglichkeit, eine globale und lokal CO2-neutrale Energiewirtschaft zu etablieren. Der Zukunftscluster bündelt die starke Expertise im Bereich der Wasserstofftechnologie im Raum Aachen und Jülich für Innovationen entlang des gesamten Wasserstoff-Lebenszyklus – von der Erzeugung über die Speicherung bis hin zur Nutzung.

Die Grafik zeigt eine Übersicht über den zeitlichen Ablauf einer von mehreren geplanten Wettbewerbsrunden. Die dargestellten Phasen von Links nach rechts:  1. Wettbewerbskizzen 2. Konzeptionsphase (6 Monate) 3. finale Auswahl 4. Umsetzungsphase I (3 Jahre) 5. Zwischenbewertung 6. Umsetzungsphase II (3 Jahre) 7. Zwischenbewertung 8. Umsetzungsphase III (3 Jahre)

So entsteht ein Zukunftscluster

Hinter den Kulissen

Die Zukunftscluster-Initiative schlägt ein neues Kapitel der regionalen Innovationsförderung auf und nimmt themenoffen ganz junge, grundlegende Forschungserfolge in den Fokus, um diese schneller zur Anwendung zu bringen. Der Projektträger Jülich unterstützt die Initiative mit Strategiebegleitung, Veranstaltungsmanagement, Wissenschaftskommunikation, Monitoring, Evaluation u.v.m. Das geht weit über die klassische Projektförderung und die geforderten fachlich-inhaltlichen Kompetenzen hinaus. Wir agieren an der Schnittstelle zwischen Politik, Wissenschaft und Wirtschaft.

Was Cluster speziell in Krisenzeiten widerstandsfähig macht, lässt sich auf zwei wesentliche Eigenschaften zurückführen: Einerseits versammeln solche Cluster eine hohe Anzahl an inter- und transdisziplinär aufgestellten Kompetenzen. Andererseits sind die Cluster-Akteurinnen und -Akteure in der Region und auch international oft besser vernetzt, was ihnen den Zugang zu wichtigen Märkten erleichtert. Solche Cluster können deshalb in mehreren Branchen und auf unterschiedlichen Märkten gleichzeitig aktiv sein und die Innovationsgeschwindigkeit entscheidend mitprägen. Wir sprechen hier von einem komplexen, flexiblen, wachsenden Wertschöpfungsnetz, das seinerseits ein besonders agiles Innovationsmanagement benötigt. Wenn alles richtig ineinandergreift, kann solche Cluster wenig erschüttern. Sie bleiben auch in der Corona-Pandemie und anderen Krisenmomenten schlagkräftig.

Bildnachweise


  • Bild „Sieben Visionen für Deutschland“: © franz12 – stock.adobe.com
  • Grafiken: Projektträger Jülich, Forschungszentrum Jülich GmbH
  • Bild Interview: Projektträger Jülich, Forschungszentrum Jülich GmbH 

Hinweise


Die Texte stammen aus dem Dossier „Regionale Innovationsförderung“ des PtJ-Geschäftsberichts 2021.
Redaktion:

  • Projektträger Jülich, Forschungszentrum Jülich GmbH
  • PRpetuum GmbH
Der Projektträger Jülich in Zahlen im Jahr 2023
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