Der Mensch im Fokus

Schon seit Jahrhunderten prägen Innovationen die Geschichte der Menschheit und formen unsere Zukunft: Die Erfindung des Rades veränderte die Mobilität, Johannes Gutenbergs erste gedruckte Bibel führte über die Schrift zum Internet und erlaubt heute eine Globalisierung des Denkens. Neue Technologien sind somit zugleich auch immer Auslöser für nachhaltige Änderungen. Entscheidend für den Erfolg: Sie müssen den einzelnen Menschen erreichen. Denn selbst die beste neue Technik nützt nichts, wenn sie nicht angenommen wird. Das Online-Lexikon Wikipedia hat es vorgemacht, es ist digitale und soziale Innovation zugleich: Die Enzyklopädie-Plattform erleichtert den Menschen die Generierung von und den Zugang zu Wissen. Soziale Innovationen können also helfen, das Leben des Einzelnen zu verbessern, indem sie neue Denkweisen und veränderte Lebensstile etablieren. Das spiegelt auch das vom Projektträger Jülich begleitete Projekt OPEN wider, das Pflegebedürftigen mit Migrationshintergrund einen Weg zu Pflege und Hilfe aufzeigt. Und auch die drei feelSpace-Gründerinnen wollen das Leben des Einzelnen bereichern: Ihr Navigationsgürtel erleichtert Blinden und Sehbehinderten die Orientierung in fremder Umgebung.

Hilfe erlaubt!

In Deutschland wächst die Zahl der Pflegebedürftigen mit Migrationshintergrund. Das Projekt OPEN erleichtert ihnen den Zugang zu Pflege und Hilfe.

Seit über 40 Jahren lebt Zekiye Gürsoy in Deutschland: 1963 kam sie mit ihrer Familie aus der Türkei. Heute ist sie mit ihren 77 Jahren eine rüstige Rentnerin, die sich um ihren pflegebedürftigen Mann kümmert: Sie hilft ihm beim Essen, zieht ihn an und wäscht ihn: „Bleibt alles in der Familie“, sagt sie und lacht. Beim Einkaufen helfen ihr die Nachbarn und Freunde, Behördengänge versucht sie zu vermeiden, lieber regelt sie die Dinge allein. In der Bundesrepublik erreichen immer mehr Menschen das Rentenalter, die einst als „Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter“ nach Deutschland kamen. Viele von ihnen verlassen sich – wie Zekiye Gürsoy – auf ihr Netzwerk. Das Angebot der Pflegeberatung nutzen sie deutlich seltener als ihre  deutschen Altersgenossinnen und -genossen. „Und oft ist es dann schon zu spät, weil die Betroffenen nicht mehr zu Hause versorgt werden können“, sagt Prof. Michael May. Der Sozialwissenschaftler der Hochschule RheinMain leitet das 2014 gestartete Verbundprojekt OPEN der Hochschule RheinMain, der Frankfurt University of Applied Sciences und der Katholischen Hochschule Mainz. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) unterstützt OPEN über die Förderrichtlinie „Soziale Innovationen für Lebensqualität im Alter“ (SILQUA-FH). Der Projektträger Jülich (PtJ) hat die Förderrichtlinie, die die Folgen des demografischen Wandels für die Gesellschaft untersucht, bis März 2017 im Auftrag des BMBF im Rahmen des Programms „Forschung an Fachhochschulen“ umgesetzt.

„Unser Projekt will älteren Zuwanderern den Zugang zu Hilfe und Pflege erleichtern, Barrieren abbauen und ihnen die Berührungsängste nehmen. Die Betroffenen können dadurch weiterhin zu Hause gepflegt werden und professionelle Hilfe in Anspruch nehmen, die ihnen laut Sozialgesetzbuch zusteht“, erklärt May. In insgesamt neun Zukunftswerkstätten in Hessen und Rheinland-Pfalz haben die Forscherinnen und Forscher zusammen mit Migrantinnen und Migranten erarbeitet, wo Hemmschwellen bestehen und warum die Pflegeberatung nicht umfänglich genutzt wird.

Die Gründe sind vielfältig ...

... und reichen von Unwissenheit über Angst vor Gerede in der Nachbarschaft bis hin zur Überforderung durch das deutsche Gesundheitssystem. „Auch die Sprachbarriere wird oft angeführt, aber unsere Studien belegen, dass Scham ein viel größeres Problem ist“, sagt May. Aus der ersten Generation der Einwanderinnen und Einwanderer seien viele dabei, die keinerlei Berührungspunkte zum deutschen Pflegesystem haben: „Sie kommen aus Regionen, in denen die Menschen alles untereinander regeln – eben auch die Pflege“, so May. Insofern sei es für sie eine Schande, eine Angehörige oder einen Angehörigen in andere Hände zu geben. „In einem Beratungsgespräch im Zuge des Projekts hat beispielsweise ein Angehöriger darum gebeten, den Pflegebedürftigen möglichst weit weg in einem Heim unterzubringen, damit die Nachbarschaft es nicht mitbekommt!“, schildert May.

Ende September 2017 endet OPEN. Die Ergebnisse aus der Forschung sollen direkt in die Praxis einfließen – beispielsweise in Weiterbildungen oder Ausbildungsmodule für Pflegeberaterinnen und -berater. So wollen die Projektpartner nachhaltige Strukturen für eine interkulturelle Öffnung der Pflegeberatung schaffen.

Den richtigen Weg fühlen

Drei Frauen – ein Unternehmen – feelSpace heisst das Start-up von Silke Kärcher, Jessika Schwandt und Susan Wache. Ihre Geschäftsidee: ein fühlbarer Navigationsgürtel für Blinde und Sehbehinderte.

Zu einer Erfolgsgeschichte gehören bisweilen auch Rückschläge: „Unser erster Antrag für EXIST-Forschungstransfer wurde abgelehnt“, erzählt Silke Kärcher. Aber davon ließen sich die 32-Jährige und ihre Mitstreiterinnen Jessika Schwandt (33) und Susan Wache (30) nicht entmutigen: „Wir waren von unserem Navigationsgürtel für Blinde und Sehbehinderte absolut überzeugt“ – und so setzten sich die drei Firmengründerinnen noch einmal hin, überarbeiteten ihren Entwurf, stellten einen neuen Antrag beim Projektträger Jülich (PtJ) – dieses Mal für das „EXIST-Gründerstipendium“ – und erhielten die Zusage. Im November 2015 gründeten sie die feelSpace GmbH. „Seitdem ist wahnsinnig viel passiert und unser Unternehmen hat konkret an Form gewonnen“, freut sich Susan Wache. Nicht nur, dass sie mit feelSpace Preise gewonnen haben – darunter den „innovate!Award“ des Unternehmensnetzwerks Osnabrück – auch die Anschlussfinanzierung ist geklärt, die Serienreife des Gürtels steht bevor.

Die Gründungsidee des Trios ist ein Navigationsgürtel für Blinde und Sehbehinderte, der ihnen hilft, sich in fremder Umgebung besser zu orientieren. Die Betroffenen tragen den schmalen, knapp 500 Gramm leichten Gürtel aus atmungsaktiven Materialien um den Bauch, 16 kleine Vibromotoren lassen sie den richtigen Weg intuitiv erfühlen. „Zusätzlich kann der Gürtelträger noch eine App einsetzen. Das funktioniert heutzutage alles über Voice-over und ist deswegen auch für blinde und sehbehinderte Menschen möglich. Man gibt also per Spracheingabe sein Ziel in sein Smartphone ein und die App sendet die Informationen zur Wegstrecke per Bluetooth an den Gürtel“, erklärt Susan Wache, die den Gürtel selbst sieben Wochen lang getragen hat. Kribbelt es vorn am Bauch, sind sie auf dem richtigen Weg, kribbelt es rechts oder links, muss die Gürtelträgerin oder der Gürtelträger die Richtung wechseln. Und vibriert es im Rücken, ist sie oder er schlichtweg in die falsche Richtung gegangen.

Der Nutzen liegt auf der Hand und ist zugleich die Vision des Trios: Blinde und sehbehinderte Menschen können mithilfe der fühlbaren Navigationslösung
selbstbestimmter und unabhängiger am Leben in der Gesellschaft teilnehmen. Und manchmal handelt es sich dabei um ganz banale Dinge: So war beispielsweise eine der Testpersonen glücklich, mithilfe des Gürtels endlich beim Rasenmähen gerade Bahnen zu ziehen. „Zudem bedient das Gerät aufgrund der steigenden Alterserwartung und durch die universale Verständlichkeit einen großen Markt“, fügt Jessika Schwandt mit Blick auf potenziell neue Zielgruppen hinzu.

Entstanden ist der Gürtel 2005 ursprünglich aus einer ganz anderen Forschungsfrage:

Was passiert, wenn Menschen über einen längeren Zeitraum kontinuierlich mit Information über den magnetischen Norden versorgt werden? Bilden sie – ähnlich wie Zugvögel – eine Art sechsten Sinn für die Himmelsrichtung aus? Vor diesem Hintergrund entwickelten Osnabrücker Kognitionswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler um Prof. Peter König einen Kompassgürtel, der seiner Trägerin oder seinem Träger mittels Vibrationssignalen anzeigt, wo sich der Norden befindet. „Unabhängig von der Ausgangsfrage haben wir in der Langzeit-Testphase viel positives Feedback vor allem von blinden und sehbehinderten Menschen bekommen. Sie fühlten sich sicherer mit dem Gürtel. Aufgrund dieser Resonanz ist die Geschäftsidee entstanden“, erzählt Silke Kärcher. Anfangs ermutigte Prof. König die Doktorandin, den Sprung in die Selbstständigkeit zu wagen. „Er steht uns auch bis heute beratend zur Seite und ist feelSpace-Mitgesellschafter“, so Kärcher, die zunächst skeptisch war: „Ich hatte ja keine Gründungserfahrung und ein solcher Schritt muss wohlüberlegt sein.“ Sie ließ sich von der Wissens- und Technologie-Transfer-Stelle der Universität Osnabrück beraten: „Die haben mein Konzept mit wenigen Fragen aus den Angeln gehoben. Als frische Uni-Absolventin hatte ich keine Ahnung, was mich in der freien Wirtschaft erwartet“, erinnert sie sich. Business-Plan, Marketing, Vertrieb – schnell wurde der jungen Frau klar, dass sie Verstärkung braucht, und sie holte Schwandt und Wache ins Boot, die sie bereits aus der feelSpace-Forschungsgruppe kannte „und von denen ich wusste, dass sie mit großer Begeisterung bei der Sache sind“, erzählt Kärcher. Und so nahm die Gründungsidee an Fahrt auf.

„Das EXIST-Gründerstipendium war schließlich ein entscheidender Schritt“, resümiert Jessika Schwandt und fügt hinzu: „Die Förderung hat uns geholfen, konstruktiv an die Sache zu gehen, in überschaubaren Schritten zu planen, Fortschritt zu präsentieren und Feedback einzuholen. Ohne diese Anfangsfinanzierung hätten wir es nicht geschafft.“ Einen klassischen Unternehmensalltag kennen die drei Gründerinnen bisher noch nicht: „Als Start-up steht man ganz schön unter Druck und muss permanent innovativ sein“, so Kärcher. Wichtig ist ihnen der stete Austausch mit Blinden und Sehbehinderten, um deren Vorstellungen und Ansprüche konkret im und am Gürtel umzusetzen. Bereut haben sie noch keinen einzigen Tag der Selbstständigkeit: „Wir wollen mit unserem Unternehmen wachsen, um langfristig international sehbehinderten und blinden Menschen zu helfen,
den Alltag noch selbstständiger zu meistern.“

Hinweis

Die Texte stammen aus dem Dossier „Innovation für den sozialen Wandel“ des PtJ-Geschäftsberichts 2016.

Redaktion:

  • Projektträger Jülich
  • Christian Hohlfeld
  • Katja Lüers

Bildnachweise


  • Hintergrundbild „Der Mensch im Fokus“: Cebas/iStock/thinkstock
  • Hintergrundbild „Den richtigen Weg fühlen“: Leon Sütfeld 
Der Projektträger Jülich in Zahlen im Jahr 2023
1.629
Mitarbeiter/innen
30.770
Laufende Vorhaben
3392,05
Fördervolumen in Mio. Euro
4
Geschäftsstellen

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