Vernetzte Gesundheit

Vielfältig, innovativ, mit Perspektive und Potenzial – die Digitalisierung im Gesundheitswesen nimmt rasant an Fahrt auf. Mithilfe neuer Technologien werden riesige Datenmengen gewonnen, deren Analyse und Nutzung der Wissenschaft und Gesellschaft große Chancen bieten – beispielsweise eine individualisierte Medizin, eine verbesserte Arzt-Patienten-Kommunikation oder auch die Aus- und Weiterbildung in Form von e-Learning-Angeboten. Ausgehend von den neusten technischen Fortschritten in der Datenerhebung und Analyse sowie der stärkeren Vernetzung von Datenquellen können wir in den nächsten Jahren bedeutende Fortschritte in der Gesundheitsforschung erwarten. Um langfristig ein leistungsfähigeres, digital vernetztes Gesundheitssystem zu entwickeln, setzt der Projektträger Jülich im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung verschiedene Förderkonzepte um.

Die Leber – eine Netzwerkerin

Grausam: In der griechischen Mythologie hackt ein Adler Prometheus täglich einen Teil seiner Leber heraus, der bis zum nächsten Tag nachwächst. Tatsächlich ist die Leber in der Lage, sich schnell zu regenerieren. Bis zu 70 Prozent ihrer Masse kann der menschliche Körper nach einer Schädigung wiederherstellen. Als zentrales Stoffwechselorgan ist sie nicht nur für die Nährstoffaufnahme zuständig, sondern entgiftet auch das Blut.

Die Leber ist eine intelligente Netzwerkerin. Netzwerk Virtuelle Leber heißt konsequenterweise jenes Projekt, in dem 70 deutsche Forschergruppen sowie weitere internationale Teams von 2010 bis 2015 die Organisationsebenen der Leber untersucht haben: vom Organ über die Leberläppchen als funktionelle Einheit auf Gewebeebene bis hin zur molekularen Ebene. Von deutscher Seite hat der Projektträger Jülich (PtJ) die Förderinitiative für das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) betreut. Basis für das Projekt ist die Systembiologie, also das Wechselspiel von Beobachtung, Modellierung und Experiment. „Zunächst mussten innerhalb jeder Organisationsstufe die Experimentatoren mit den Theoretikern kommunizieren und versuchen, experimentelle Ergebnisse gemäß vorher definierter Fragestellungen mithilfe von Modellen zu erklären“, sagt Dr. Dirk Drasdo von der Universität Leipzig. Der  Systembiologe war an dem Projekt maßgeblich beteiligt – als Modellierer, Projektleiter und Mitglied im Lenkungsausschuss. Darauf aufbauend entwickelten die Wissenschaftler dynamische Modelle, welche die Physiologie, Morphologie und Funktion der Leber auf verschiedenen Organisationsebenen modellhaft abbilden.

Eine typische Fragestellung, in die Drasdo involviert war: Wie regeneriert sich eine durch Schmerzmittel-Überdosierung akut geschädigte Leber? Immerhin ist eine Paracetamol-Überdosis der häufigste Grund für akutes Leberversagen in den USA und England. „Wir haben ein Multiskalenmodell für die Organisations- und Funktionsebenen entwickelt“, erklärt Drasdo. Durch die Iterationen von Experiment und Modellierung wurden die Modelle zunehmend besser und genauer. Und auf Basis der Modellsimulationen wurden informative Experimente gezielter ausgewählt und damit der Einsatz von Ressourcen optimiert. Immer mehr Phänomene ließen sich simultan erklären. „Uns ist damit ein Ansatz gelungen, der künftig helfen könnte, Menschen mit akutem Leberversagen, besser zu behandeln“, erklärt Drasdo. Die Einblicke in die Leberregeneration versprechen darüber hinaus neuartige Therapie-Ansätze bei Zirrhose und anderen Schädigungen der Leber.

Aufbauend auf den Erkenntnissen ist inzwischen ein Projekt gestartet, bei dem Drasdo wieder dabei ist: Das Forschungsnetz Systemmedizin der Leber – eine Initiative, die PtJ erneut für das BMBF administriert – berücksichtigt verstärkt die klinische Anwendung. Auf Basis von systembiologischen Ansätzen wollen Ärzte, Molekularbiologen und Bioinformatiker übergreifende Schlüsselprozesse identifizieren, die zur Entstehung von Lebererkrankungen führen. Basierend auf aktuellen Fortschritten in der klinischen Leberforschung sollen mit diesem Ansatz eine Einordnung der Patienten in Risikogruppen ermöglicht sowie optimierte Behandlungsverfahren entwickelt werden.

Datennutzung zum Wohle des Patienten

Die Digitalisierung eröffnet im Gesundheitswesen neue Wege und Chancen: Daten, die bisher nicht oder nur eingeschränkt verfügbar sind, lassen sich berücksichtigen, um neue Diagnose- und Therapieansätze zu entwickeln. Auch die Systemmedizin zielt auf die verbesserte Datennutzung, um Krankheitsprozesse mithilfe mathematischer Modelle zu analysieren, zu simulieren und ihren Verlauf vorherzusagen. Ein Interview mit Dr. Gisela Miczka vom Geschäftsbereich Lebenswissenschaften und Gesundheitsforschung des Projektträgers Jülich (PtJ) über Perspektiven und Herausforderungen.

Welche Rolle spielt die Systemmedizin in der Gesundheitsforschung?

Die Systemmedizin gewinnt allmählich an Bedeutung. Entwickelt hat sie sich aus der Systembiologie, die als Forschungsansatz in Deutschland in den letzten Jahren etabliert und weiterentwickelt wurde. Sie zielt darauf ab, das dynamische Zusammenspiel möglichst aller Komponenten eines biologischen Systems zu beschreiben, um ein ganzheitliches Bild zu erhalten. Hierzu werden biologische Vorgänge mit mathematischen Modellen beschrieben. Wissenschaftler überprüfen diese Modelle anhand experimenteller Daten und verbessern sie in iterativen Zyklen von Laborexperiment und computerbasierter Modellierung. Inzwischen wurde gezeigt, dass der systembiologische Forschungsansatz in verschiedenen Bereichen erfolgreich angewendet werden kann. Auch in der Gesundheitsforschung, also für klinisch relevante Fragestellungen, wurden erste Modelle erstellt und getestet.

Existieren auch schon systemmedizinische Ansätze?

Es gibt erste Projekte, in denen Wissenschaftler mithilfe mathematischer Modellierung die Möglichkeit einer personalisierten Behandlung von Krebspatienten untersuchen. Ein Beispiel ist das Verbundprojekt Treat20plus, das PtJ für das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) betreut. Die Forscher setzen ein Computermodell ein, mit dem vorhergesagt werden kann, wie verschiedene Wirkstoffe bei einem Patienten individuell wirken. Das macht eine maßgeschneiderte Krebstherapie möglich, da für jeden einzelnen Patienten die jeweils passenden Wirkstoffe identifiziert werden können.

Gehört der Systemmedizin die Zukunft?

Ihre vollständige Rolle für Medizinanwendungen, einschließlich der personalisierten Therapie, ist noch nicht abzuschätzen. Auch wenn erste Ansätze erfolgsversprechend sind – bis der Arzt Entwicklungen aus der Systemmedizin am Patientenbett einsetzt, ist es noch ein weiter Weg. Dennoch wird es meiner Meinung nach ohne Systemmedizin nicht möglich sein, komplexe Krankheitsprozesse zu analysieren und zu beschreiben. Der Einsatz von mathematischen Modellen und Computersimulationen ist dabei essenziell, um Vorhersagen zum Krankheitsverlauf und zur Wirksamkeit von Arzneimitteln und Therapien für den gesamten Gesundheitsbereich zu erzielen.

Im Zeitalter der Digitalisierung werden immer mehr Daten in immer weniger Zeit produziert. Wie lässt sich die Datenflut bewältigen?

Sowohl die Bio- als auch die Medizininformatik übernehmen hier einen wichtigen Part. PtJ betreut beispielsweise für das BMBF das Deutsche Netzwerk für Bioinformatik-Infrastruktur. In dem Netzwerk de:NBI werden Ressourcen und Expertisen zur Verwaltung, Bereitstellung und Nutzung großer Datenmengen gebündelt und als Dienstleistung für die gesamten Lebenswissenschaften angeboten. Darüber hinaus hat das BMBF 2015 die Förderung der Medizininformatik bekannt gegeben. Das mit 100 Millionen Euro ausgestattete interdisziplinäre Forschungsfeld wird von PtJ und dem DLR Projektträger betreut. Die Maßnahme zielt darauf ab, die Gesundheitsversorgung und die Forschung mithilfe digitaler Lösungen besser zu vernetzen, so dass eine Datennutzung zum Wohle des Patienten erfolgen kann: Eine digitale Schnittstelle soll helfen, den Austausch von Daten zu optimieren. Forscher erhalten anonymisierte Daten für ihre Untersuchungen, umgekehrt gelangen neueste Erkenntnisse aus der Forschung in die Versorgung.

Wie steht Deutschland im internationalen Vergleich da?

Deutschland bildet gemeinsam mit Großbritannien europaweit die Spitze der systemmedizinischen und systembiologischen Forschung. Das spiegelt sich unter anderem in der umfangreichen Beteiligung deutscher Forscher an den Fördermaßnahmen der EU-Kommission wider, die PtJ koordiniert. Eine dieser Maßnahmen ist ERACoSysMed, das erste systemmedizinisch orientierte ERA-Net in Europa.

Mit E-Learning Tiere schützen

Tierversuche lassen sich in der Wissenschaft nicht vollständig vermeiden. Doch gibt es Wege, sie auf ein Minimum zu reduzieren: „Wissen schützt Tiere“ lautet das Motto einer e-Learning-Plattform, die Dr. Nicole Linklater gemeinsam mit Prof. Gerhard Heldmaier und Dr. Cornelia Exner von der Philipps-Universität Marburg aufgebaut hat – gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und betreut durch den Projektträger Jülich. Anfangs war Versuchstierkunde online als deutschsprachiges Informationsmodul für Studierende gedacht, inzwischen hat sich daraus der dreisprachige Webauftritt Laboratory Animal Science (LAS interactive) entwickelt. Er verbindet das weiterhin kostenfreie Portal und das kostenpflichtige Schulungsportal Laboratory Animal Science Campus (LAS Campus). Dort haben Menschen, die mit Versuchstieren arbeiten, die Möglichkeit, sich in der Theorie aus-, fort- und weiterzubilden – mit einem entsprechenden Abschluss. Multimediale Elemente wie Videos und interaktive Lernhilfen zeigen auf, wie die Anzahl der Versuchstiere und ihre Belastungen auf ein Minimum reduziert werden können. Künftig will Linklater den Webauftritt zu einer europaweiten Plattform ausweiten, um die Aus- und Fortbildung für das Personal bei Tierexperimenten zu harmonisieren. Wer beispielsweise plant, in einem anderen Land zu arbeiten, erfährt bei LAS interactive, welche Auflagen er erfüllen muss.

Hinweis

Die Texte stammen aus dem Dossier „Digitalisierung“ des PtJ-Geschäftsberichts 2015.

Redaktion:

  • Projektträger Jülich
  • Christian Hohlfeld
  • Katja Lüers

Bildnachweise


  • Hintergrundbild „Vernetze Gesundheit“: Petrovich9/iStock/thinkstock
  • Portraitbild Dr. Gisela Miczka: Forschungszentrum Jülich GmbH/Ralf-Uwe Limbach
  • Hintergrundbild „Mit E-Learning Tiere schützen“: Jacob Ammentorp Lund/iStock/thinkstock
Der Projektträger Jülich in Zahlen im Jahr 2023
1.629
Mitarbeiter/innen
30.770
Laufende Vorhaben
3392,05
Fördervolumen in Mio. Euro
4
Geschäftsstellen

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