Mitten im Wandel

Die Erwartungen sind hoch. Digitalisierung gilt als einer der Megatrends und Innovationstreiber des 21. Jahrhunderts. Neue Arbeits- und Lernformen, neue Produktionstechniken, verändertes Konsumverhalten, neue Geschäftsmodelle – in nahezu allen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft eröffnen sich neue Möglichkeiten. Wirtschaftsexperten sprechen von der zweiten Moderne oder der vierten industriellen Revolution, kurz Industrie 4.0. Und sie warnen: Wer den Trend verpasst, wird abgehängt. Entsprechend spielt Digitalisierung eine wichtige Rolle in der Forschungs- und Innovationsförderung. Der Projektträger Jülich (PtJ) begleitet die Entwicklung bereits seit vielen Jahren.

Eigentlich ist Digitalisierung nichts Neues.

Automatisierte Industrieroboter, digitale Speichermedien oder Computersimulationen – alles das gibt es bereits seit Jahrzehnten. In den letzten Jahren hinzugekommen sind jedoch neue technische Möglichkeiten, um Geräte und Prozesse zu vernetzen sowie die anfallenden Daten zu erfassen und auszuwerten. „Nicht ohne Grund ist immer wieder von Daten als dem Gold des 21. Jahrhunderts die Rede“, sagt Dr. Christian Stienen, PtJ-Leiter. Daten fallen heute fast überall an: bei Gasturbinen, in der Produktion von Autos oder Lebensmitteln, beim Arztbesuch. Diese Datenmengen werden sich im Zuge der Vernetzung sogar noch vervielfachen. Gefragt sind die Werkzeuge, mit denen Daten zusammengetragen und analysiert werden können, um wichtige Zusammenhänge und Informationen sichtbar zu machen.

Die Zukunft könnte dann so aussehen:

Intelligente Fabriken stellen Produkte schneller und effizienter her, da nicht nur Maschinen untereinander kommunizieren sondern alle Akteure miteinander vernetzt sind – vom Rohstoffhersteller über den Zulieferer bis zum Kunden. In den eigenen vier Wänden sorgen ausgeklügelte IT-Systeme für ein ressourcen-sparendes Energiemanagement. Selbstfahrende Autos bringen uns sicher von Ort zu Ort.

Einiges wird allerdings erst in zehn oder mehr Jahren Realität sein. Passende Technologien fehlen oder sind noch in der Entwicklung. Es gilt, gemeinsame Standards festzulegen. Datenschutz und -sicherheit müssen gewährleistet werden. Dennoch: „Der digitale Wandel hat längst begonnen, das sehen wir in allen von uns betreuten Förderbereichen“, so Christian Stienen, „Digitalisierung wird nicht nur mit speziell auf Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) ausgerichteten Programmen gefördert. Von der Energieforschung über Unternehmensgründung bis hin zu den Lebenswissenschaften: In zahlreichen von uns betreuten Projekten spielt Digitalisierung eine bedeutende Rolle.“

Bessere Diagnosen und individuellen Therapien

Ein Beispiel ist die Gesundheitsforschung mit der Medizininformatik. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) hat 2015 ein umfassendes Förderkonzept vorgestellt, an dem PtJ maßgeblich mitgewirkt hat. „In das Konzept ist die Expertise eingeflossen, die wir in den vergangenen 15 Jahren in Sachen Informationstechnologie und Biologie beziehungsweise Medizin aufgebaut haben“, berichtet Dr. Bernhard Gilleßen, der neben seiner Funktion als Leiter des PtJ-Bereichs BioMedizin auch die Leitung des neu eingerichteten Kompetenzfeldes Digitalisierung übernommen hat. Angefangen hat es um die Jahrtausendwende mit der Förderung der Systembiologie. Diese Fachrichtung verfolgte einen neuen Ansatz: Ergänzend zu klassischen Experimenten wurden mathematische Modelle von biologischen Vorgängen entwickelt, um aus Computersimulationen neue Erkenntnisse zu gewinnen. Bereits frühzeitig beschäftigten sich die PtJ-Experten daher auch intensiv mit IT-Infrastrukturen und Standards für die Erfassung und den Austausch von Daten.

In den folgenden Jahren begann auch der Aufbau der Systemmedizin, die Simulationen und mathematische Methoden in die alltägliche Arbeit von Kliniken einführen soll. „Die Medizininformatik ist der nächste logische Schritt: Wir müssen die vielfältigen Daten aus der Forschung und die Daten aus der Patientenversorgung so zusammenführen, dass alle Beteiligten den größtmöglichen Nutzen davon haben“, beschreibt Bernhard Gilleßen das Ziel. Eine breitere Datenbasis und neue IT-Lösungen könnten etwa die Forschung beschleunigen sowie bessere Diagnosen und individuelle Therapien ermöglichen.

Wegbereiter der Energiewende.

Auch in der Energieforschung wurden in der Vergangenheit über die Forschungsförderung immer wieder digitale Lösungen entwickelt, etwa im Rahmen der E-Energy-Initiative, die das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) 2007 gemeinsam mit dem Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (BMUB) gestartet hat. Damals wurden in sechs Modellregionen IT-Lösungen für Verbraucher und Kraftwerke entwickelt, auf denen heutige Ansätze beruhen, insbesondere für die Energieversorgung durch erneuerbare Energieträger.

Ein ähnliches Konzept verfolgt das neue Förderprogramm SINTEG des BMWi – und zwar für die Energiewende. Hier entwickeln und erproben fünf Modellregionen innovative Ansätze für eine effiziente und sichere Versorgung mit Wind- und Sonnenenergie. „Durch die Energiewende hat die Entwicklung von IT-Lösungen für den Energiesektor an Bedeutung gewonnen. Denn eines ist klar: Nur mit einer gezielten Digitalisierung kann die Energiewende gelingen“, betont Dr. Martin Weber, Mitarbeiter im PtJ-Bereich Erneuerbare Energien. Ein Schwerpunkt sind intelligente Netze, auch Smart Grids genannt. Sie sind notwendig, um die komplexere Energieversorgung von morgen sicherzustellen.

Denn künftig werden noch mehr dezentrale Erzeuger den Strom direkt in die Verteilernetze einspeisen – und das nicht gleichmäßig, sondern stark schwankend. Das stellt die Verteilernetze vor große technische Herausforderungen. In den intelligenten Netzen sollen Sensoren den aktuellen Zustand im Verteilernetz erfassen und Steuerelemente für einen reibungslosen Betrieb sorgen. Davon sollen auch die Stromkunden profitieren, die mithilfe von Datenauswertungen ihren Stromverbrauch gezielter steuern können. „Mit Unterstützung der Projektförderung ist die Digitalisierung im Energiebereich den Kinderschuhen entwachsen. Bis zu einer 80-prozentigen Versorgung durch erneuerbare Energien bleibt aber noch viel zu tun“, erläutert Martin Weber. So müssen beispielsweise neue Mess- und Regelgeräte besser miteinander kommunizieren, um die stärkeren Schwankungen ausgleichen zu können.

Digitaler Wandel – das sagt die Politik

Die Bundesregierung sieht in der Digitalisierung die Chance, dauerhaftes Wachstum, hohe Beschäftigung und eine steigende Lebensqualität zu erreichen. Ihre Politik wird in zwei Papieren deutlich: der Digitalen Agenda 2014 – 2017 vom August 2014 und der Digitalen Strategie 2025, die im März 2016 vorgestellt wurde. Im Mittelpunkt stehen insbesondere Netzausbau, Cybersicherheit und die Förderung der digitalen Wirtschaft. Vorgesehen sind beispielsweise der Ausbau des Breitbandnetzes, die Unterstützung von Unternehmensgründungen sowie gezielte Förderprogramme etwa für Autonomik, Big Data, Cloud Computing und Mikroelektronik. Das Digitale Investitionsprogramm Mittelstand soll darüber hinaus die Einführung neuer Geschäftsmodelle ermöglichen. Die Digitalisierung soll aber auch in der öffentlichen Verwaltung sowie in Bildung und Wissenschaft vorangetrieben werden.

Von der Idee zum Unternehmen.

Der große IKT-Anteil in den von PtJ betreuten Vorhaben spiegelt sich auch bei den Gründerstipendien im EXIST-Programm wider. Das Programm des BMWi fördert Unternehmensgründungen an Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen. Etwa drei Viertel der rund 200 Stipendien, die pro Jahr vergeben werden, gehen an Vorhaben aus dem IKT-Bereich. Aus Sicht von Dr. Thomas Großmann vom PtJ-Bereich EXIST-Gründungskultur, Gründerstipendien hat das zwei Gründe: „Die Förderdauer von zwölf Monaten reicht in der Regel aus, um etwa eine Softwareprogrammierung abzuschließen. Hinzu kommt, dass in der Branche gerade viel passiert und Innovationen zum Teil innerhalb weniger Monate entstehen.“ Entsprechend gäbe es hier viele Gründerideen.

Er und seine Kollegen haben aber auch beobachtet, dass sich der IKT-Anteil in anderen Fachgebieten wie etwa im Maschinenbau stetig erhöht. „Das liegt daran, dass beispielsweise der Softwareanteil bei Maschinen und Geräten immer größer wird“, erklärt er. Neue Fördermaßnahmen sollen den jungen Unternehmern helfen, sich auch international zu etablieren. Die Fördermaßnahme German Accelerator unterstützt beispielsweise gezielt Unternehmen der IKT-Branche dabei, ihre Produkte auf dem US-amerikanischen Markt zu platzieren.

Sparen und schonen

Digitalisierung kann darüber hinaus ein Weg sein, Kosten zu sparen, Ressourcen zu schonen und den Energieverbrauch zu senken. „Im Mittelpunkt stehen hier die Green IT und Green by IT“, sagt Dr. Jean-François Renault, der das Kompetenzfeld Ressourceneffizienz bei PtJ koordiniert. Dabei geht es um zwei sich ergänzende Ansätze: Einerseits wird betrachtet, wie IKT über deren gesamten Lebenszyklus hinweg umwelt- und ressourcenschonend gestaltet werden kann – vom Entwurf über die Produktion bis zum Recycling (Green IT).

Andererseits kann IKT helfen, Rohstoffe und Energie zu sparen – etwa mittels Datenbanken, vernetzter Sensoren (Internet der Dinge) oder Smartphone-Apps (Green by IT). Auch neue Onlinedienste, die auf „Teilen statt Kaufen“ setzen, können dazu beitragen, Ressourcen zu schonen. Dazu zählen Angebote zum Carsharing und zum Tauschen oder Verleihen von Spielsachen oder Kleidung. Allerdings sollte hier im Einzelfall genau hingesehen werden. „Mehr IT heißt nicht zwingend, dass etwas grüner wird“, warnt Jean-François Renault.

Unter Umständen spart ein digitales Angebot zwar bestimmte Ressourcen ein, verbraucht jedoch gleichzeitig mehr Energie. Am Ende fällt die Gesamtbilanz negativ aus. „Solche Betrachtungen werden jedoch bislang kaum angestellt“, so der PtJ-Experte. Aber er ist optimistisch: Über kurz oder lang werde es hier Standards geben, nach denen Vorhaben bereits im Vorfeld eingeschätzt werden können.

Umfassender Strukturwandel

Weitere Beispiele lassen sich in allen PtJ-Geschäftsfeldern finden. „Wir haben es hier mit einem umfassenden Strukturwandel zu tun. Ein Wandel, der um einiges rasanter abläuft als etwa die Industrialisierung im 19. Jahrhundert oder die Automatisierung im 20. Jahrhundert. Darauf wollen auch wir als Projektträger reagieren“, fasst Christian Stienen zusammen. So bündelt PtJ künftig im Kompetenzfeld Digitalisierung seine Expertise in diesem Bereich.

„Der Austausch über die verschiedenen Geschäftsfelder hinweg ermöglicht es uns, übergreifende wie spezifische Lösungen für die von uns betreuten Fachprogramme zu entwickeln. Wir behalten stets die technologischen, wirtschaftlichen und forschungspolitischen Entwicklungen im Blick – sowohl in den Themenbereichen unserer Geschäftsfelder als auch im Querschnittsbereich der IKT-Anwendungen. Unsere Stärke ist dabei, die verschiedenen Welten miteinander zu verzahnen und daraus passgenaue Instrumente und Strategien zu konzipieren“, verdeutlicht der PtJ-Leiter. Ziel sei es, die Auftraggeber in allen Fragen von Forschung und Innovation rund um das Thema Digitalisierung kompetent zu beraten und zu begleiten. Im Rahmen der 2015 gestarteten Strategie Digitale Wirtschaft NRW des Landes Nordrhein-Westfalen übernimmt der Projektträger eine solche Aufgabe bereits.

Ansprechpartner:

Dr. Bernhard Gilleßen
02461 61-2723

Umdenken ist gefragt

Mit Industrie 4.0 kennt sich Wolfgang Dorst bestens aus. Der ehemalige Bereichsleiter Industrial Internet, 3D-Druck im Digitalverband Bitkom hat sich schon zu Beginn seiner Berufslaufbahn vor knapp 40 Jahren mit der Digitalisierung in der Metallverarbeitung beschäftigt. Es folgten verschiedene Aufgaben in der IT- und Kommunikationsbranche. Als Experte in zahlreichen Initiativen, Gremien und Arbeitskreisen unterstützt er den digitalen Wandel.

Herr Dorst, Industrie 4.0 ist ein oft verwendetes Schlagwort, was genau verbirgt sich dahinter?

Es kursieren über 130 Definitionen. Einfacher ist es zu sagen, was Industrie 4.0 nicht ist: nämlich die Einführung des Computers oder die Digitalisierung der Produktion. Das ist Industrie 3.0. Heute geht es um den Einzug des Internets in die Produktion und die Nutzung von Daten – und zwar von Daten, die sowohl bei Entwicklung und Herstellung als auch bei der Nutzung eines Produkts anfallen, wenn es die Fabrik verlassen hat.

Mit der Umsetzung scheint es jedoch zu hapern, zumindest ist häufig zu lesen, dass Deutschland mehr Tempo machen müsse. Teilen Sie diese Ansicht?

Man muss genau hinsehen. Große wie Siemens, Bosch, ThyssenKrupp oder auch der Automobilzulieferer ZF haben längst erkannt, dass hier starke Umwälzungen im Gange sind, denen man sich stellen muss. Schwieriger ist es bei manchen kleinen und mittleren Unternehmen, die meist über gute Produkte und zufriedene Kunden verfügen. Oft verspüren sie nicht den Druck, sich verändern zu müssen. Beispielsweise liegt in Deutschland der Schwerpunkt auf Automatisierungslösungen. Neue Geschäftsmodelle und Services auf Basis datengetriebener, vernetzter Anwendungen sind noch in der Minderheit. Industrie 4.0 benötigt Investitionen, neue Kompetenzen und Partner. Die Umsetzung dauert Jahre. Viele sehen eher die Risiken als die Chancen. Hier besteht durchaus die Gefahr, dass einige den Anschluss verpassen.

Was brauchen wir, um das zu vermeiden?

Es geht nicht nur um Technik, sondern vor allem ums Umdenken. Digitalisierung ist ein Trend, der nicht aufzuhalten ist. Das bedeutet, ein Unternehmen muss sich seine Geschäftsprozesse genau ansehen und bei jedem einzelnen Element überlegen, ob und wie dieses Element mit Internetdiensten effizienter, besser oder schneller wird. Außerdem benötigen gerade junge Unternehmen Wagniskapital. Und wir müssen neue Geschäftsmodelle entwickeln. Das kann der Verkauf von Lizenzen oder Services sein oder auch das Teilen von Inhalten und Dingen über Internetplattformen.

Was bedeutet das für die Forschungsförderung?

Die Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) hat das in ihrem Jahresgutachten 2016 treffend zusammengefasst. Die Digitalisierungsförderung in Deutschland ist zu einseitig auf Effizienzsteigerungen in der Produktionstechnik fokussiert. Neue Geschäftsmodelle müssen viel stärker gefördert werden. Das entspricht genau dem, was unter anderen wir als Bitkom bereits gefordert haben. Steuerliche Anreize bei Investitionen und Patenten gehören ebenfalls dazu. Wenn diese Dinge umgesetzt werden, wäre das ein großer Schritt nach vorne.

Herr Dorst, vielen Dank für das Gespräch!

Hinweis

Die Texte stammen aus dem Dossier „Digitalisierung“ des PtJ-Geschäftsberichts 2015.

Redaktion:

  • Projektträger Jülich
  • Christian Hohlfeld
  • Katja Lüers

Bildnachweise


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  • Portraitbild Wolfgang Dorst: Bitkom
Der Projektträger Jülich in Zahlen im Jahr 2023
1.629
Mitarbeiter/innen
30.770
Laufende Vorhaben
3392,05
Fördervolumen in Mio. Euro
4
Geschäftsstellen

PtJ ist zertifiziert nach DIN EN ISO 9001 : 2015 und ISO 27001 auf Basis IT-Grundschutz